Wien, 28.9.2023
Liebe Leserin, lieber Leser,
das Schöne an einem kostenlosen Newsletter ist - für mich als Autor-, dass ich schreiben kann, was immer ich mag. Diesmal an dieser Stelle deshalb keine tiefschürfend essayistisch-philosophischen Gedanken, sondern stattdessen etwas recht Klassisches, nämlich eine Beschreibung eines Spiels, das ich aktuell noch nirgends so richtig direkt gewürdigt gesehen habe und das mich die letzten Tage beschäftigt hat. Die Rede ist von Witchfire vom polnischen 12-Mann-Studio The Astronauts.
Die früheren Spiele der Entwickler, die zuvor bei People Can Fly gearbeitet haben, sind mit einer Ausnahme recht actionlastig: Sowohl Painkiller als auch Bulletstorm waren geradlinige Oldschool-Shooter, das First-Person-Abenteuer The Vanishing of Ethan Carter hingegen war eine - grafisch spektakuläre - Walking Sim mit Rätselelementen und einer sehr guten Story.
Dass Witchfire im Gegensatz dazu eher wieder krachig würde, war den Trailern vorab zu entnehmen. Was genau das im Early Access im Epic Store letzte Woche erschienene Spiel nun ist, hab ich allerdings mit ziemlicher Verblüffung erst direkt beim Spielen festgestellt.
Witchfire ist, man glaubt es kaum, etwas ziemlich Originelles, und zwar eine Mischung aus Extraction-Shooter, Rogue-lite und First-Person-Soulslike. Das heißt zunächst, dass man sich hier immer und immer wieder auf dieselbe, mäßig große Map begibt, um von dort im Bestfall etwas mit nach Hause zu nehmen - oder aber, wenn man zu gierig ist und sich zu viel vornimmt, mit leeren Händen heimzukehren.
Das erfolgreiche Escape from Tarkov, Ausgangspunkt des aktuellen Extraction-Game-Hypes, hat mit seinem simplen, aber berüchtigt brutalen Risk-Reward-Kern eine kleine neue Multiplayer-Nische aus dem Boden gestampft, die die härtesten Lehren aus DayZ und PUBG zieht.
Mittelfristiges Spielziel von Witchfire ist das Besiegen eines Bosses auf der Insel; darauf folgt die Freischaltung des nächsten Gebiets. Insgesamt sollen es sechs Maps werden. Die größte Besonderheit im Unterschied zu Tarkov: Witchfire ist ein reines Single-Player-Spiel und soll es auch bleiben.
Praktisch sieht das so aus, dass man bei Witchfire auf die erste von zwei im EA verfügbaren Maps startet und dort mit jedes Mal neu verteilten Gegnern und Herausforderungen konfrontiert ist - der Rogue-like-Anteil. Bevor es zum Boss geht, kann man eine fixe Zahl von auf der Insel zufällig verteilten Mobs töten, um sich - nur für diesen Run! - mit Buffs und Ressourcen auszustatten, die den Endkampf besser bewältigbar machen.
Darin liegt ein weiteres Risk-Reward-Dilemma: Wer die ganze Insel säubert, bevor er sich zum Boss begibt, hat bessere Voraussetzungen für einen Sieg - kann aber auch am Weg leicht sterben oder aber nur stark ausgeblutet zum Boss kommen.
Sterbe ich, geht’s zurück zum Start; die eingesammelte Ressource namens Witchfire ist verloren und kann, wie bei Souls & Co, exakt einmal beim nächsten Run gesammelt werden, bevor sie verschwindet. Es gibt die ersten fünf Minuten jedes Runs die Option, direkt vom jeweiligen Startpunkt auf der Map (es gibt mehrere) wieder nach Hause zu teleportieren; so kann man gerade am Anfang in relativer Sicherheit ein wenig farmen und so seinen Charakter aufleveln. Braucht man länger, schließt sich das Portal, durch das man gekommen ist, und man muss sich zu einem der anderen, jedes Mal woanders befindlichen Portale aufmachen, bevor man heim darf, um seinen Charakter durch Level-ups zu stärken.
Das Aufleveln des Helden hat allerdings auch seine Tücken; hier kommt eine dritte Risk-Reward-Überlegung ins Spiel. Bei jedem einzelnen Stufenaufstieg werden nämlich auch die Gegner stärker, es kommen neue Fallen und Monstertypen hinzu, und irgendwann suchen mich auch die sogenannten Calamities heim, spezielle Events, die aus heiterem Himmel riesige Mengen Monster spawnen oder mich sonstwie herausfordern.
Eigentlich wäre es somit am sichersten, möglichst lange auf niedriger Stufe zu farmen, um nicht zu schnell mit den wirklich fiesen Herausforderungen konfrontiert zu werden; das geht aber nur, wenn man das erbeutete Witchfire jedes Mal mit in die Schlacht nimmt, wo man es - wie erwähnt - leicht wieder verlieren kann. Risk - Reward.
Ich Schlaumeier hab natürlich, Souls-erfahren, jede Chance zum Aufleveln genutzt und stehe jetzt, nach etwa acht Stunden, mit einem fett aufgemotzten Charakter einer noch viel tödlicheren Gegnerschar gegenüber; eine Herausforderungskurve, die seit Oblivion, das denselben Gag mit den mitlevelnden Monstern das erste Mal gebracht hat, eigentlich nie so richtig funktioniert hat.
Hier tut sie es aber überraschenderweise doch, denn die parallele Weiterentwicklung der Waffen und ihrer Spezialfähigkeiten ist in gewisser Weise der Trick, die Aufrüstungslogik des Spiels auszuhebeln; dass es dabei trotzdem immer knackig und souls-like eine Übung in Konzentration und Leidensfähigkeit bleibt, ist die erstaunliche Qualität dieses Spiels, das ich euch hiermit ans Herz lege. Kann aber durchaus sein, dass ich alles hinschmeiße und ganz von vorn beginne; ich habe den Verdacht, dass ich es mir mit ein wenig mehr Risiko - also dem Horten statt Aufleveln - paradoxerweise ein wenig einfacher hätte machen können.
Hab ich schon erwähnt, dass sich Waffenfeedback und Bewegung nach ein paar Aufrüstungsstufen so perfekt anfühlen wie seit Doom Eternal und Destiny 2 nirgends sonst? Hab ich schon gesagt, dass sich Atmosphäre und vor allem auch Sound in absoluten AAA-Regionen bewegen? Zu mäkeln gibt’s natürlich trotzdem etwas, doch einiges davon, vor allem die zu starke Penalty für verbrauchte Ausdauer, wurde in bewundernswert kurzer Zeit per Patch nachgebessert.
Ich mag Spiele, die mich herausfordern, und die sich auf verschiedene Weise bezwingen lassen; jeder, der Souls & Co kennt, weiß, dass pure Skills nicht der einzige Weg ans Ziel sind. Schön, wenn sich kleine, geradlinige Spiele wie Witchfire in ihren Systemen weitaus gewiefter und vertrackter zeigen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.
Übrigens: Wer Escape from Tarkov sozusagen im Kleinen, allein und im stylischen Pixel-Look erleben will, kann mit Zero Sievert ein wunderbares Mini-Stalker spielen.
Ich geh jetzt aber wieder die Hexe hauen. Wär doch gelacht.
Dein Rainer
Lieber Rainer,
Könntest du kurz ausführen, warum aus deiner Sicht das gute Mitleveln der Gegner so schwer zu bewerkstelligen ist in Spielen seit Oblivion (wie war das da)? Machen sie es besser bei Witchfire, weil sie dann automatisch höhergelevelt werden als man selber oder weil mehr Gegner auf einen losgelassen werden? Cheers, michi
Leider wird das Studio von einem Gamergater geführt und deswegen nicht wirklich unterstützenswert. Schade, das Konzept ist nämlich sehr interessant.