Volldampf voraus
Wien, 6.5.2022
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich sag immer: Wer sich ins Forum begibt, kommt darin um. Aber trotzdem: Ja, ich lese Kommentare. Zu einem meiner Artikel über aktuelle Indiespiele in einer Publikation mit einem wirklich, wirklich, wirklich großen Forum bekam ich vor kurzem die Klage zu lesen, dass die Nintendo Switch bei den von mir genannten Indie-Neuerscheinungen schmählich unterrepräsentiert sei - wie es sich gehört, mit der unnachahmlich forumstypischen freundlichen Bemerkung verziert, das sei vermutlich meiner journalistischen Faulheit geschuldet.
Meine Antwort darauf war recht simpel: Interessante aktuelle Indie-Spiele landen erst nach einigen Monaten, wenn überhaupt, auf der Switch; wenn ein Artikel also Indie-News im Auge hat, geht diese Plattform zumindest als eine für Neuveröffentlichungen eher unter. Und wenn große Indies dann doch einmal auf Nintendos Konsole landen, das musste ich beim Durchscrollen des Nintendo eShops aufs Neue feststellen, laufen sie höchste Gefahr, von einer richtiggehenden Flut von Ramsch überrollt zu werden.
Das ist kein schöner Befund für eine Konsole, die sich über 106 Millionen Mal verkauft hat und vielleicht auch bei dir zu Hause herumsteht, vielleicht als dein einziges Spielgerät, wahrscheinlicher aber als Zweit- oder Zusatzplattform. Das ist sogar ein sehr bestürzendes Urteil über eine Konsole, die auch ich in den letzten Jahren wiederholt als Indie-Maschine gelobt hatte. Eine Zeitlang hatte es tatsächlich danach ausgesehen, als würde Nintendo mit seiner relaxteren Veröffentlichungspolitik endlich auch die lange vernachlässigten unabhängigen Entwickler ernst nehmen. Wer allerdings inzwischen im Online-Store der Switch stöbert, hat es schwer, Spreu vom Weizen zu trennen. Ich sag’s: Nintendos eShop hat inzwischen mehr mit den in Sachen Discoverability legendär nutzlos gewordenen Mobile-Stores von Apple und Android gemeinsam als mit den anderen Downloadplattformen von PlayStation, Xbox oder am PC.
Aber eigentlich, das muss ich anfügen, damit das hier nicht zu Nintendo-Bashing verkommt, haben auch die anderen Konsolen nicht wirklich viel Grund, sich auf die Schultern zu klopfen. Klar, vor allem Xbox ist dank PC-Hardware und GamePass in Sachen Versorgung mit namhaften Indies weit vorn dabei, und auch für PS4 und PS5 erscheinen relevante Titel in höherer Frequenz, doch die dazugehörigen Download-Biotope lassen zu wünschen übrig. Und das vor allem im Vergleich mit dem Elefanten im Raum: Steam.
Ja, ich weiß, ich weiß: Das Spielen am PC ist nicht für alle attraktiv. Früher mal wegen der Spiele, die es dort oft nicht gab, dann wegen der wirklich auch mal vorhandenen technischen Mühseligkeit, alles mit Patches, Treibern und Upgrades zum Laufen zu bringen. Die längste Zeit wegen des hartnäckigen Irrglaubens, PC-Gaming wäre erst ab einer Hardware-Investition im Ausmaß kleinerer Gebrauchtwagenkäufe möglich. Danach - und legitimerweise - wegen der bevorzugten Spielposition am Sofa, die sich halt nur per Konsole im Wohnzimmer realisieren lässt. Dass sich regelmäßig ein besonders laut blökender Haufen von „Höhöhö, PC-Masterrace“ grölenden Deppen zur Bewerbung der Plattform versammelt, macht sie jetzt für einige auch nicht rasend sympathisch.
Doch was Steam in den letzten 18 Jahren auf die Beine gestellt hat, ist eigentlich ziemlich unglaublich. Ich behaupte: Es wird zu wenig gewürdigt. Und das hat jetzt nicht unbedingt mit dem PC als Plattform zu tun. Steam hat nicht nur mit seiner besonders anfangs umstrittenen DRM-Lösung mehr zur Eindämmung der Piraterie geleistet als alle anderen Maßnahmen zusammen, sondern vor allem durch den in diesen Dingen immer stechenden Trumpf „Bequemlichkeit“. Um Patches muss sich keiner mehr kümmern, Saves landen in der Cloud, es gibt Achievements, Freundeskreise, Gamification, umfangreiche Rezensionsmöglichkeiten, Communities, Mod-Support, Wunschlisten, diverse Sales im Dauerstakkato, Streaming, Feedback für Entwickler, Early-Access-Unterstützung, Refundierungsmöglichkeiten, Charts, Statistiken und sogar nicht unbedingt verkaufsgetriebene Events wie die soeben über die virtuelle Bühne gegangene LudoNarraCon, bei der die Verkaufsplattform mit ihren Videostreams zur Games-Konferenz wird.
Bei Steam erscheinen pro Woche über 200 Spiele, die allermeisten davon von Kleinststudios, die allermeisten davon nicht besonders gut. Steam wird trotzdem nicht zur hoffnungsvoll zugeramschten Müllhalde, weil es auf Kundenmitarbeit setzt: Rezensions- und Bewertungsmöglichkeit liefern zumindest ein wenig Orientierung, ein Early-Access-Spiel mit 3524 „äußerst positiven“ Rezensionen kann ich bei Genreaffinität fast blind kaufen. Wenn ich im Vergleich dazu auf egal welcher Konsole vor weitaus weniger Neuerscheinungen stehe, bleibt mir nur die Sichtung des Marketingmaterials - wenn ich’s genauer wissen will, muss ich selber im Netz nach Rezensionen suchen.
Ja, eh: Ich kenne die Gründe, aus denen Hardware-Hersteller wie Sony und Nintendo historisch nicht in diese Richtung gegangen sind. Es sind technische, ideelle und ökonomische Gründe, manchmal, wie im Fall von Nintendo, ist es aber wohl auch nicht wenig Ignoranz. Dass es nicht leicht ist, Steam nachzuahmen, beweist sogar auf PC der Epic Store, der aber zumindest dafür gesorgt hat, dass sich wiederum der Platzhirsch selbst in den letzten Jahren gehörig verbessert hat.
Nein, ihr Konsolenspieler müsst deshalb nicht alle auf PC als Spielgerät wechseln. Aber falls ihr euch fragt, wie eine bessere Lösung rund ums Kaufen, Sichten, Veröffentlichen, Diskutieren und Spielen aussieht, als die, die euch Sony, Microsoft und Nintendo vorsetzen: Es geht auch anders. Steam zeigt das aktuell am besten vor. Kein Wunder, dass vor allem im quicklebendigen Indie-Bereich genau dort etwas Spannendes passiert.
Keine Ahnung, ob das Steam Deck es schaffen wird, die starre Konsolenwelt und ihre anachronistisch wirkenden Verkaufswüsten durch Transfer dieser Tugenden in diverse Wohnzimmer etwas aufzumischen. Fürs Erste wäre es aber schon einmal ein Fortschritt, wenn ich im Nintendo eShop nach einem Fehlkauf als Service für andere die haarsträubendsten Gurken per Daumen nach unten markieren dürfte.
Dein
Rainer
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