Stille Tage
Wien, 17.12.2021
Liebe Leserin, lieber Leser,
Geschenke kaufen, Glühwein trinken, Weihnachtsfeiern, gut, dieses Jahr weniger als sonst, aber trotzdem: Bis zu den Feiertagen ist Action, aber was direkt nach Weihnachten kommt, ist eigentlich das Geschenk, das man sich selbst machen könnte. Ein paar Tage im Jahr, in denen nix geht, in denen alles egal ist, wo man alles erledigt oder zumindest keine Lust mehr hat. Wo man ohne Termine mal gepflegt herumlümmeln und irgendwas tun kann, wozu man sonst keine Zeit hat.
Bei den Azteken oder Mayas, hab’s vergessen, bei welchen, gab’s jedes Jahr im Kalender drei oder vier „tote Tage“, die man wie die Schaltjahre zum Ausbalancieren der wohl sonst wackeligen Jahresaufteilung brauchte. Ungefähr so ist das Fress- und Feierkoma unserer Zivilisation zwischen Weihnachten und Neujahr wohl am besten zu verstehen.
Natürlich, oder: Hoffentlich sind das die Tage, in denen man spielt. Vielleicht, weil man zu Weihnachten endlich die Konsole, das Spiel bekommen hat, auf das man sich gefreut hat, vielleicht weil man endlich mal Muße hat, die Beute aus den letzten zwölf Steam-Sales oder einem ganzen Jahr Bundle-Abo oder Gamepass oder vom sonstigen Pile of Shame anzusehen. Vielleicht kehrt man auch zu einem Spiel zurück, das man schon liebt, wie der jährliche Besuch bei einem alten Freund. Ein, zwei, vielleicht drei Tage, um ohne Stress die Welt hinter dem Bildschirm zu bereisen.
In den letzten Tagen habe ich einen spannenden Text von Edwin Evans-Thirlwell auf Eurogamer gelesen, mit dem Titel „Playing videogames carefully“. Er beschreibt darin etwas, das mir das ganze Jahr immer wieder, aber hauptsächlich genau in den nun auf uns zukommenden „toten Tagen“ das Spielen verleidet.
Viele Spiele, so schreibt er, sind viel zu sehr damit beschäftigt, uns mit allem, was sie haben, zu überhäufen, uns Aufregung, Adrenalin, Suchtspiralen, Arbeit, Spannung, Wiederholung und Zerstreuung aufzutischen. Kurz: Viele Videospiele sind mehr darauf aus, uns zu beschäftigen, als uns Raum zu geben, in dem wir uns selbst amüsieren könnten. Das ist schon für die normale Lebenszeit eines halbwegs erwachsenen Menschen eigentlich nicht toll; im Falle der Schwester des Autors, die an Krebs stirbt, ist es dramatisch.
Edwin Evans-Thirlwell schreibt: „Die Zeit mit meiner Schwester hat mich erneut mit Abscheu gegenüber dem stunden- und tagelangen Zeitaufwand erfüllt, den Videospiele oft verlangen, und das nur für das mittelmäßige Vergnügen, irgendeiner Spielfigur auf “befriedigende” Art und Weise den Kopf wegzuschießen, oder um irgendeine Story in die Länge zu ziehen, die ein halbwegs talentierter Kurzgeschichtenautor in ein paar Absätzen abhandeln könnte. Wenn Videospiele schlecht sind, sind sie die schlimmste Form von Kunst, mit riesigen Kosten für ihre Schöpfer und den ganzen Planeten hergestellt, voll mäßig dramatischer, aber dafür abhängig machender Beschäftigungstherapie (…) Es macht mich zornig, dass Bea ihre verbleibenden Nachmittage und Abende an Spiele wie Assassin’s Creed Odyssey oder die späteren Far Crys verfüttert hat - Spiele, die trotz ihrer Qualitäten nur von Wiederholung, Riesenhaftigkeit und sinnfreier Eroberung leben.“
Im Rest des Textes spricht der Autor vom Spielen für andere, hier für seine Schwester, als eine Form der Fürsorge („care“); abseits der dramatischen Lebenssituation, von der dort die Rede ist, sollten wir uns aber vielleicht auch selbst die Frage stellen, womit wir unsere Zeit verbringen.
Auch wenn wir, wie ich hoffe und dir wünsche, zum Glück nicht schwer krank sind, ist unsere Zeit hier begrenzt. Keine Sorge, ich werde dich hier jetzt nicht darauf hinweisen, dass du mal besser rausgehen, Sport betreiben oder nette Menschen besuchen solltest - ich gehe einfach mal entspannt davon aus, dass du auch so Videospiele nicht als Ersatz für ein „reales“ Leben verwendest, sondern als etwas, das du außerdem und überdies gerne machst.
Dass unsere Zeit begrenzt ist, soll dich also nicht vom Spielen abhalten, denn Spielen ist etwas Wunderbares. Trotzdem schadet es nicht, hin und wieder ein paar Fragen zu stellen. Erlebe ich hier etwas, das mich entspannt, erfreut und bereichert - oder fütter ich meine Lebenszeit in einen einarmigen Banditen, der mich mit kleinen Endorphinbursts nur so weit befriedigt, dass ich nicht aufhören will? Habe ich, wenn ich den Controller weglege, das Gefühl, etwas geschafft oder gar erschaffen zu haben - oder wartet einfach schon der nächste Punkt auf einer endlosen To-do-Liste aufs Abhaken? Ist das, was ich heute in meinem Spiel erlebt habe, so besonders, dass ich mich in drei Tagen noch dran erinnere? In einer Woche? In einem Jahr?
Es kann jetzt natürlich jede und jeder so halten, wie er oder sie will. Um dem ollen Adorno eins auszuwischen: Nein, es gibt zum Glück kein falsches Spielen im richtigen, denn als Homo ludens hat man zum Glück viel umfassender die Wahl, welchen Regeln man sich freiwillig unterwirft.
Für mich selbst stelle ich fest: Ich mag Spiele, die mich wie eine Reise an fremde Orte führen, wie das olle „Rune“, das ich alle paar Jahre nach Weihnachten wieder ausgrabe und nochmal spiele. Ich mag aber auch Spiele, in denen ich von cleveren Systemen jedes Mal neu herausgefordert werde, wie Michael Broughs „868-Hack“, das mich Weihnachten vor ein paar Jahren verschluckt hat. Und ja, ich hab größte Lust, nochmal nachzusehen, ob „Dark Souls 2“ als Underdog der Reihe nicht doch mehr taugt, als allgemein Konsens ist.
Was ich sagen und dir damit zu Weihnachten wünschen will: Wenn du den Luxus hast, dir nach den Feiertagen selbst ein paar Tage zum Spielen zu schenken, such dir eins aus, das dich nicht nur beschäftigt, unterhält und ablenkt, sondern das ein bisschen mehr ist. Vielleicht eins ohne Grind, ohne XP-Farming und ohne Lootboxen. Vielleicht eines, das akzeptiert, dass unsere Zeit begrenzt ist, und das zu würdigen weiß, dass wir sie ausgerechnet mit ihm verbringen. Ich glaube, wir haben uns das dieses Jahr alle verdient.
Frohe Festtage und einen guten Rutsch!
Dein
Rainer
PS: Dir fällt keins ein? Spiel endlich „Disco Elysium“. Oder frag mich, auf Twitter.
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