Spirit of 21
Wien, 3.12.2021
Liebe Leserin, lieber Leser,
das ist jetzt ein bisschen awkward, weil ich vor zwei Wochen diesen Briefwechsel ja richtig kitschig mit Liebe begonnen habe. Liebe zu Videospielen. Eine Liebe, die Menschen verbindet, oder zumindest ein Interesse daran, das so intensiv ist, dass es vielleicht sogar die Liebe überdauert. Wenn ich mal selbstkritisch sein darf: Das war schon fast ein wenig schmalzig.
Diesmal nicht.
Diesmal geht es um Hass. Um Wut. Um Ekel, Gleichgültigkeit, Abscheu, Erschöpfung. Diese Emotionsmelange ist der Spirit of ‘21 bei mir. Und wenn ich mir meine Familie, meinen Freundeskreis, meine Umgebung, meine Stadt, die Gesellschaft, in der ich lebe und so gut wie den ganzen Planeten ansehe, bin ich nicht allein damit. Kleine Entwarnung: Nicht gegenüber Videospielen, denn, mal ehrlich, nicht mal die größte Games-Gurke hat sich so viel Emotion verdient.
Ich mag eigentlich gar nicht im Detail aufzählen, was mich alles in diese Emotion versetzthat. Denn eigentlich sind wir ja beide hier, um dem ganzen Mist zu entkommen. Ja, Games sind Eskapismus, um einmal nicht an Corona, Umweltkollaps, Korruption, Politik, Sexismus und die ganzen Trottel denken zu müssen, die allen anderen und letztlich, schwacher Trost, auch sich selbst das Leben zur Hölle machen.
Videospiele sind also Eskapismus. Der hat einen schlechten Ruf, aber warum eigentlich? Eskapismus ist nötig. Wer nicht mehr spielt, ist mir verdächtig. Steile These: Wer den Zugang zu seiner spielerischen Seite verloren hat, hat an Menschlichkeit verloren. Natürlich muss deswegen Onkel Ulf keine PS5 kaufen. Es gab und gibt jede Menge andere Spiele, mit denen wir Menschen unsere mentalen Schützengräben verlassen und mal Pause machen können.
Videospiele haben allerdings eine Menge Vorteile, die eine Runde Tarock, der Kegelabend oder das Fußballspielen nicht haben. Zuallererst den, dass sie sich von einem miesen Virus nicht ausbremsen lassen. Aber statt hier jetzt den Bekehrten zu predigen, warum Games supi sind - mal ehrlich, du liest diesen Newsletter, no more questions, your honor - frag ich mich schon hin und wieder, was genau den Reiz ausmacht.
Warum spielst du? Und sag jetzt nicht „Spaß“. Nein. Nein! Sag es ni- VERDAMMT!
Ich glaub ja: Wir spielen, um zu überleben.
Spiele - konkret hier gemeint: Videospiele - geben uns in Zeiten der Ohnmacht etwas, was wir sonst kaum mehr empfinden: das Gefühl der Handlungsmacht. Dieser Mangel an Handlungsmacht im echten Leben frustriert, und zwar gewaltig. In Zeiten der Hypermedialisierung sehen wir es einfach viel deutlicher, wie scheißegal wir als minikleine Rädchen in diesem Getriebe anscheinend sind.
Videospiele geben uns dieses lebensnötige Feedback zurück, dass wir nicht egal sind. Ob in Age of Empires, in Halo Infinite, in Loop Hero, in Clash of Clans, Dark Souls oder Animal Crossing: Wenn ich einen Knopf drücke, passiert was, und damit haben Videospiele unserer Existenz in dieser Gesellschaft etwas Entscheidendes voraus.
Außerdem: In Videospielen zählt Kompetenz etwas. Ja, viele Spiele sind „competence porn“, sie zeigen uns schön, wie Probleme erkannt, analysiert, angegangen und gelöst werden können. Hatte jemand von euch in den letzten Monaten das Gefühl, dass die - geschenkt - komplexeren Probleme der realen Welt irgendwo auf eine ähnlich effiziente Weise auch nur angeschaut werden?
Zum Dritten: Videospiele - zumindest die besten - bürsten unsere Gehirnwindungen in Richtung Alpha-Flow, wo wir uns Problemen in einer perfekten Mischung aus Entspannung und Konzentration widmen können. Dann ist’s auch zumindest kurzzeitig vorbei mit Hass, Wut, Ekel, Gleichgültigkeit, Abscheu und Erschöpfung. Der Spirit of ‘21 hat dann Pause.
Weil, psst, Geheimnis: Exakt der zen-artige Fokus, den du und ich bei Forza, Tetris, Rocket League und Destiny 2 erreichen, wäre der natürliche Betriebszustand der etwa 1.300 Gramm schweren Masse zwischen unseren Ohren, wenn wir nur Jäger und Sammler geblieben wären. Nicht, dass damals alles besser gewesen wäre. Aber mit Xavier Naidoo musste man sich im Neolithikum zumindest noch nicht rumschlagen.
Also: Eskapismus olé! Aber echte Probleme löst man am Controller nicht. Vor Corona kann man nicht davonlaufen. Vor Umweltkollaps, Korruption, Politik, Sexismus und den ganzen Trotteln auf Dauer auch nicht. Müsste zumindest Marx nicht deshalb Games als neues Opium des Volkes mies finden?
Ehrlich gesagt weiß ich es auch nicht. Aber irgendwie denke ich mir: Es hat einen Wert, wenn ich etwas mache, das mir zeigt, dass auch ein Einzelner wirkmächtig handeln kann; wenn ich erlebe, dass das Erkennen und Analysieren die Voraussetzung für sinnvolles Problemlösen sind; wenn ich einen Zustand herbeiführe, der Hass, Wut, Ekel, Gleichgültigkeit, Abscheu und Erschöpfung durch entspannte Aufmerksamkeit zumindest zeitweise neutralisiert.
Dass Games das schaffen, ist doch ganz gut. Vielleicht hat man dann ja doch irgendwann das Selbstvertrauen, das intellektuelle Handwerkszeug und die mentale Kraft, den Spirit of ‘21 nicht als Ausrede gelten zu lassen, den Zustand der Welt nur passiv zu bedauern.
Venceremos,
Dein
Rainer
PS: Spiel Exo One , das ist der beste dreistündige Kurzurlaub, den du jetzt machen kannst. Kein HUD, kein Kampf, kein Stress, nur Flow und eine Science-Fiction-Kulisse, die Stanley Kubrick umgehauen hätte. Tu es. Im Ernst.
Bild: Midjourney, Prompt: Dark God from below, giant scale, European city centre, wide angle, action shot, matte painting, crowds, gloomy, fog, mist