Okkult und esoterisch
Wien, 14.1.2022
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich weiß nicht, wie es dir geht, aber: Es gibt Menschen, die hassen es, sich nicht auszukennen. Bei mir selbst kann ich das nicht so ganz genau sagen: Einerseits verlaufe ich mich zum Beispiel ebenso selten wie ungern und hasse Desorientierung wie die Pest. Andererseits bin ich - Achtung, selbstironischer Klischee-Schmäh - als Österreicher vielleicht besser als andere gewohnt, mit unsauberen Unschärfen umzugehen und akzeptiere, dass man manche Mechanismen als Durchschnittsuntertan einfach auch gar nicht so genau verstehen soll und besser nicht nachfragt, weil 1. war das schon immer so, 2. da könnt’ ja sonst jeder kommen und 3. haben wir das schon immer so gemacht.
Also: Nicht genau zu wissen, was gerade los ist, kann nerven oder aber zur Würze des Lebens beitragen. Auch bei Videospielen empfinde ich diese Ambivalenz. Die haben zwar - im Gegensatz zur Existenz in einer Operettenbananenrepublik - festgelegte Regeln, die wiederholbar dieselben Resultate erbringen, aber büßen bei absoluter Berechenbarkeit auch an Charme ein.
Dass es Regeln gibt, macht also den Reiz und das Wesen von Spielen aus; wie - und ob! - sie mir vermittelt werden, ist dann aber nochmal nähere Betrachtung wert. Früher™, in der Zeit vor Internetforen, Twitch, Walkthroughs und vor allem Tutorials, gab’s bei vielen Spielen noch teils recht fette Handbücher, in denen genau beschrieben wurde, wie das soeben erworbene Wunderwerk an Unterhaltungssoftware nun denn funktionieren würde. Wie das denn nun genau sei mit dem Ausrüsten von Torpedos und Unterwasserminen, wo in welchem Untermenü man das Ubootsonar nun aktivieren könnte, welche Ergebnisse dann dabei zu erwarten waren und was zur Hölle ein Ubootsonar eigentlich ist, all das stand im Handbuch.
Wenn man denn ein Handbuch „zur Hand hatte“. Wenn man das Spiel nun „zufällig“ nicht gekauft, sondern per „Sicherheitskopie“ am Schulhof nur mal kurz „geliehen“ hatte, gab’s kein Handbuch und man stand blöd da. (Wo kommen die ganzen Anführungszeichen her auf einmal? Mysteriös.) Also wie gesagt: Man stand blöd da und konnte nix tun.
Oder auch nicht, denn im Rausfinden, was eigentlich genau zu tun ist, liegt ein Spaß, der heutzutage und die längste Zeit viel zu wenig gewürdigt wurde.
Es ist eine nostalgische Erinnerung an die Frühzeit meines Spielerlebens: all die Nachmittage, an denen ich keinen Tau hatte, was ich da mache, aber trotzdem fasziniert und begeistert dabei war, genau das herauszufinden. Geduldig, durch Versuch und Irrtum sowie aufgeregten Austausch mit den ähnlich ahnungslosen Freunden am Schulhof tags darauf. Das Spiel war nicht nur Spiel, sondern als Ganzes ein mysteriöses Artefakt, das enträtselt werden wollte; und draufzukommen, wie das Ding denn nun überhaupt zu bedienen war, war oft sogar spannender, als dann tatsächlich seine Aufgaben zu bewältigen.
Denselben Reiz habe ich danach lange Jahre vermisst. Wie gesagt: Tutorials und Walkthroughs, Internetforen und eine im Vergleich zu früher beispiellose Zugänglichkeit haben bei vielen den Eindruck erweckt, dass es ein peinlicher Mangel eines Spiels sein müsste, wenn es sich in seinen Mechanismen, Abläufen und Regeln nicht sofort offenbart. So sind viele Spiele nach und nach banal geworden: die Unklarheiten schon im Tutorial weggebügelt, alle Geheimnisse per Tooltip vernichtet, der 100%-Walkthrough im Wiki oder auf YouTube nur einen Klick entfernt.
Allerdings: In den letzten Jahren hat sich das wieder ein bisschen geändert. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich ursächlich mit dem Erfolg von „Dark Souls“ zu tun hat, das bekanntlich sein Publikum absichtlich im Dunkeln lässt, oder ob es nur das offensichtlichste Beispiel für den Trend hin zu Spielen ist, die sich nicht sofort ausbreiten und allen Zauber wegerklären. Ich weiß aber, dass genau diese Spiele, die sich auf diese Weise zieren, zu meinen absoluten Lieblingsspielen geworden sind. Nicht nur in den Spielen von From Software: Dass ich in „Below“ vor einer Unterwelt voller Mysterien stehen darf, die sich nur langsam erschließen, hat mich vor drei Jahren genauso begeistert wie das Grübeln an den Rätseln in „La-Mulana“ oder das Erlebnis, hinter die Geheimnisse von „Cultist Simulator“ zu kommen.
In den letzten Wochen gab es gleich mehrfach Spiele, die sich selbst als Artefakte sehen und das Enträtseln, was denn hier überhaupt genau das Spiel sei, als zentral begreifen. Zum einen natürlich das große „Inscryption“, aber auch, viel kleiner und obskurer, „Nix Umbra“ und, ganz neu, „Teocida“.
Diese Art von Gamedesign, bei dem das Aufdecken der Spielmechaniken selbst als Teil des Spiels begriffen und zelebriert wird, würde ich als „okkultes“ oder „esoterisches Gamedesign“ bezeichnen. Nicht wegen der Totenköpfe und Satanssymbole, die zumindest in den zwei Letzteren eine Rolle spielen, sondern eher im Wortsinn: Okkult, von lateinisch occultare, „verstecken“, „verbergen“, und esoterisch, im Sinne der griechischen Wurzel, „innerlich“, oder auch der übertragenen Bedeutung: etwas Irrationales, Rätselhaftes bis Nebulöses, das nur von Eingeweihten zu verstehen ist. Diese Einweihung oder Initiation macht den Reiz aus; da kann ein Handbuch, ein Tutorial oder auch ein Wiki nicht mithalten.
Wie eingangs gesagt: Es gibt Menschen, die hassen es, sich nicht auszukennen. Ich finde hingegen: Es ist spannend, etwas herauszufinden. Muss ja nicht die Funktionsweise eines Ubootsonars sein; dafür hätte ich dann doch auch gern im Handbuch nachgeschaut.
Dein
Rainer
PS: Zwei Wörter: Rusty. Lake.
Bild: Midjourney, Prompt: sepia seance