Macht süchtig!!!1
Wien, 17.6.2022
Liebe Leserin, lieber Leser,
ja, ich weiß, ich hab schon den letzten Brief über Diablo Immortal und Free-to-Play gelästert, aber in den letzten zwei Wochen bin ich dann nochmal ins Grübeln geraten. Auf Metacritic wird Blizzards Sündenfall von den Usern mit 0,2 Punkten abgestraft, es gibt vonseiten der allermeisten Journalisten und der Presse einen Konsens, was die Verdammung der als besonders unverschämt empfundenen Monetisierung betrifft, und ja, auch das erwartbar, Blizzard wirft den Empörten Stöckchen mit dem Aufblitzenlassen eines „richtigen“ Diablo 4. Das wird dann ganz anders. Versprochen.
Ich bin ins Grübeln gekommen, weil die ganze Aufregung um die Monetisierung ein zentrales, viel grundlegenderes Problem mit Diablo, aber auch mit Spielen allgemein zugedeckt hat. Ein Problem, das von vielen, vielleicht auch von dir, überhaupt nicht als Problem gesehen wird, sondern im Gegenteil: vielleicht sogar als Kern dessen, was du von Spielen willst, warum du sie spielst und was du unter keinen Umständen missen möchtest.
Du kennst das: Spiele, wenn sie gut sind, nehmen uns in Besitz, schlagen ihre Fänge in uns, kolonisieren unser Denken und beschäftigen uns. Wir denken an sie, wenn wir gerade nicht spielen können, wir reden über sie, vermissen sie und freuen uns, sie wieder zu starten. Wir wollen möglichst viel Zeit mit ihnen verbringen, wir fiebern ihnen entgegen und wenn wir sie spielen, ist alles gut; wenn wir keine Zeit haben oder aus anderen Gründen nicht spielen können, fehlen sie uns.
Wenn jemand „von außen“ mit dem Urteil kommen würde, dass das alles Anzeichen einer - Vorsicht, Reizwort - Sucht sein könnten, dass Spiele süchtig machen, reagieren wir (ich auf jeden Fall) emotional: Es gibt schon so viele Vorurteile über dieses Medium und uns, sein Publikum, der Großteil davon Unfug, ignorant und beleidigend. Spiele machen gewalttätig; sie machen asozial; Gamer duschen nicht, haben keine Freunde, sind fette Loser. Natürlich wehren wir uns gegen diesen Mist, und das schon sehr lange; so lange, dass Kritik am Medium insgesamt oft reflexhaft abgewehrt wird wie vom besten Ping-Pong-Spieler der Welt. Spiele, süchtigmachend? Fuck off!
Und trotzdem: Wenn wir unter uns sind und uns nicht verteidigen müssen, sind wir nicht so spitzfindig, auf dem Unterschied zwischen „substanzbasierten Süchten“, „Abhängigkeiten“ und „problematischem Konsum“ herumzureiten. Am eindeutigsten ist das wohl in tausenden Kurz- und Kürzestrezensionen zu sehen, wie es sie in den App- und PlayStores zu lesen gibt. „Macht süchtig!!!“ steht dort ausschließlich als positives Urteil. Ein Spiel ist gut, wenn es uns süchtig macht; auf eine gewisse Art und Weise würde wohl jede und jeder von uns dieser Aussage nicht ganz widersprechen wollen. Vielleicht nicht gegenüber dem anklagenden Elternvereins-Sorgenchor, aber unter uns: Wir wissen es, ein kleines Bisschen, auch wenn es - meistens, hoffe ich - bei uns selbst kaum je ins „Problematische“ ausgeartet ist. Außer das eine Mal, damals. Weißt schon.
Statt von Sucht reden wir lieber von Faszination, Verliebtheit, Begeisterung, aber es ist ein Fakt: Es gibt Menschen, die anfälliger sind, auch bei Spielen in „problematischen Konsum“ abzugleiten. Wir kennen solche, wir wissen, dass es das gibt, wir verurteilen aber nicht das Medium dafür, weil wir differenzieren können. Ein bisschen süchtig machen ist ok, oder?
Also zum Beispiel: ein Spiel, das sein Publikum so perfekt unterhält, so gut motiviert, möglichst lang am Spielen hält, in das wir täglich reinschauen und das über Wochen, Monate - so ein Spiel ist gut, solange es diese gezielt herbeigeführte enge Bindung nicht über Gebühr strapaziert - oder? Und „über Gebühr“, heißt, wie im Fall von Diablo Immortal, dass es uns besonders frech ausraubt, Pay-to-Win ist und besonders bedauernswerte, dafür anfällige Menschen sogar mit an echtes Glücksspiel erinnernden Methoden in existenzbedrohende Suchtspiralen katapultiert. Was, ich erinnere gern daran, bei einigen, gar nicht so wenigen Menschen tatsächlich der Fall ist.
Das ist das Fiese an Videospielen, besonders an jenen, die in den letzten Jahren am meisten davon profitiert haben, dass sie uns eng an sich binden - Service-Games, MMOs, Free-to-Play-Spiele: Sie sind absichtlich so gestaltet, dass sie uns, im oben von uns beiden gemeinten „positiven“ Sinn, im Sinn von „gutem“ Spieldesign, süchtig machen wollen. Sie wollen, dass wir täglich da sind, dass wir wiederkommen, dass wir sonst alles andere links liegen lassen. Sie sind endlos, immer da, geben Halt. Es sind unsere „Main Games“, oft die einzigen, die wir noch spielen; auch wenn wir oft gar nicht mehr genau wissen, warum.
Jemanden süchtig zu machen, ist lukrativ; und es ist längst eine exakte Wissenschaft. Jahrzehnte von psychologischer und verhaltenswissenschaftlicher Forschung, oft sogar im Auftrag der realen Glücksspielindustrie, die ihre Kunden besonders effizient ums Geld bringen will, ergeben ein ziemlich genaues Rezept, wie man jemanden dazu bringt, dranzubleiben, wiederzukommen, sich in ein Ding zu verlieben, einem Mechanismus zu verfallen.
Ziemlich viel davon wird inzwischen auch in der Gamesbranche zum Einsatz gebracht, und es ist, wie ich schon letztes Mal geschrieben habe, kein Zufall, dass sich ausgerechnet Diablo so gut für diese Art der Monetisierung eignet: Diablo war schon lange davor ein Spiel, das sein Publikum wie ein einarmiger Bandit süchtig gemacht hat. Für viele war das der Beweis für seine Qualität: Diablo ist gut, weil wir es für Tage, Wochen, Monate nicht mehr aus der Hand legen wollten.
Aber Moment: Sind die Spiele, die unsere Knöpfchen so perfekt drücken, dass wir ihnen auf diese manische, zwanghaft mechanische Art verfallen, auch wirklich „gut“? Ist „macht süchtig!!!“ wirklich ein substanzielles Lob für ein Spiel? Sollten wir uns als Publikum nicht ein bisschen weniger begeistert in derartige Beziehungen zu kommerziell genau dahin designten Dingen stürzen?
Viel gepredigt. Sorry. Aber es schadet nix, sich eines in Erinnerung zu rufen, was Blizzard und die ganze milliardenschwere Branche ziemlich sicher ganz genau wissen: In toxischen Beziehungen ist nicht Geld die Hauptsache. Sondern Macht. Das Geld kommt dann von selbst.
Dein
Rainer
Bild: Midjourney, Prompt: Girl looking in surrealist mirror; gloomy, scary, dark, Renaissance, chiaroscuro, aesthetic, by Hieronymus Bosch