Love is not enough
Wien, 24.11.2021
Liebe Leserin, lieber Leser,
Briefeschreiben ist schwer, besonders an jemanden, den man noch nicht besonders gut kennt. Einen persönlichen Brief, wenn auch elektronisch, schreibt und bekommt man nicht einfach so. Oftmals haben Empfänger und Absender etwas gemeinsam: Sie teilen Geschichte, sind Familienmitglieder, Freunde, sind einander in Liebe verbunden und teilen sich das in Form gewählter, wohlüberlegter Worte mit.
Uns beide - obwohl wir uns nicht persönlich kennen - verbindet demnach ebenso etwas, und ich wage zu sagen: Es ist auch Liebe. Nicht die Liebe zueinander, sondern die Liebe zu Videospielen. Diese Liebe ist der Grund, warum du das hier liest. Sie ist der Grund, warum ich hiersitze, vor meinem PC, der Arbeits- und Spielgerät zugleich ist. Liebe hat mich hierher gebracht.
Zumindest habe ich das geglaubt. Bis ich noch einmal darüber nachdachte. Denn eigentlich fällt es mir immer schwerer, diese Liebe zu empfinden. Ja, ich weiß, das ist jetzt ein Scheißstart in einen Briefwechsel, in dem es irgendwie dann doch um Videospiele gehen soll. Aber es ist wahr.
Liebe ich Videospiele noch? Ich weiß es nicht.
Gegenfrage: Liebst du Videospiele? Was bedeutet das eigentlich - Liebe gegenüber einem Medium? Geht das überhaupt? Ist das so wie Menschen lieben, oder das Theater, oder die See?
„Gaming is not the most important thing in my life“, das hat der Polygon-Chefredakteur Ben Kuchera vor sieben Jahren in einem Artikel geschrieben, und dafür einen kleinen Shitstorm geerntet. Das kommt mir ein bisschen albern vor, denn ich weiß nicht, wie es dir geht, aber bei mir ist das genauso.
Die Liebe, die viele Menschen Videospielen entgegenbringen, kommt mir übertrieben vor. „Fan“ kommt von Fanatismus, und wir wissen beide, dass es bei „Gamern“ zu viel davon gibt. All die starken Gefühle für eine bestimmte Konsole, für ein bestimmtes Spiel, für eine bestimmte Art, es richtig zu spielen. Mit dieser Leidenschaft kommen Eifersucht und Abgrenzung: Du spielst das falsch, dein Spiel ist kein richtiges Spiel - und bist du überhaupt ein Gamer?
In den letzten Jahren haben mich Menschen, die auf die Frage, ob sie Spiele lieben, ohne eine Sekunde des Zögerns mit „FUCK YEAH“ antworten, am meisten genervt. Wie sie ihr Medium eifersüchtig bewachen. Wie sie ihr Revier abstecken. Wie sie ihre Liebe verteidigen, gegenüber allem, was ihnen verdächtig vorkommt. Sie haben mich tatsächlich mehr genervt als all die Leute außerhalb, die mit ihren uralten Vorurteilen gegenüber Spielen langsam in der Rente verschwinden. Ja, die Community, mit ihrem romantischen „Wir sind alle eine große Gamer-Familie“-Gehabe nervt. There, I said it.
Und auch manche Videospiele nerven, was völlig normal ist für ein Medium, das eine Bandbreite an Themen, Settings, Spielweisen, Genres, Ansprüchen, Technologien und Inhalten bereitstellt wie kein anderes. Der Hurra-Patriotismus und das Liebäugeln mit rechten Ideologien von Call of Duty nervt. Free-to-Play-Verarsche bei Handyspielen nervt. Elitarismus bei der „Git gud“-Soulsborne-Crowd nervt. Gamerkultur mit ihrem Abfeiern des ewigen Konsumismus nervt, PR-Overkill nervt, der dümmliche, immer noch vorhandene Sexismus nervt, kaputte Spiele nerven und dass Influencer für plumpe Schleichwerbung mit Millionen zugeschüttet werden, während Qualitätspublikationen zusperren, nervt auch. Dass es immer noch Alltag ist, dass irgendjemand Morddrohungen aus Gamerkreisen bekommt, nervt nicht nur, sondern ist eine verdammte Schande, die mir regelmäßig auf den Magen schlägt.
Nach all dem: Liebe ich Spiele? Die Frage kommt mir komisch vor. Liebe ich die Menschen, das Theater, die See?
Ganz ehrlich? Liebe ist überbewertet, zumindest gegenüber Dingen. Passender als von Liebe sollte man vielleicht eher von einem bleibenden, heftigen, auch leidenschaftlichen Interesse reden. Ja, verdammt, Videospiele interessieren mich. Sie interessieren mich, seit ich 1988 das erste Mal einen C64 angeschaltet habe. Sie interessieren mich so sehr, dass ich noch heute weiß, dass der Cheatcode für das 1988er-Taito-Spiel The New Zealand Story „MOTHERFUCKENKIWIBASTARD“ lautet. So sehr, dass ich inzwischen wohl schon einen halben Metern an Büchern über Dark Souls & Co im Regal stehen habe, das ich seit Jahren eigentlich reduzieren statt weiter anfüllen will. Sie interessieren mich in dem Ausmaß, dass ich ziemlich sicher mein ganzes restliches Leben darüber reden, schreiben und nachdenken kann, ohne dass mir langweilig wird.
Ist das Liebe? Ich glaube, es ist mehr als das. Es ist der Wille, sich etwas wirklich anzusehen. Ohne rosa Brille, ohne Vorurteile, aber mit Neugier und, ja, Interesse.
Hoffentlich ist es das, was uns verbindet. Denn ehrlich: Es geschehen die ganze Zeit verdammt interessante Dinge in der Welt der Videospiele. Um die soll es gehen in diesen Briefen. Die Frage nach der Liebe stellt sich dabei nicht unbedingt. Liebe ist nicht genug.
Wir lesen uns in zwei Wochen wieder, und wie es sich für einen Briefwechsel gehört, interessiert es mich auch, was du dazu zu sagen hast. Schreib gern zurück - entweder direkt hier oder im Forum. Bis dann!
Dein Rainer
PS: Verdammt, da schreibe ich all das und dann kommt sie bei nächster Gelegenheit, nach all der Abgeklärtheit doch schon wieder von ganz unten aus meinem Bauch herangeschlichen - die Liebe. Und zwar von ganz, ganz tief unten, denn am Early-Access-RPG Stoneshard hat mich schon damals, als es Anfang 2020 frisch in den Early Access gestartet ist, die Optik weit, weit in die Vergangenheit zurückgeschickt. 32-bit-Pixel-Liebe von oben, ein Open-World-Fantasy-Rogue-like mit Tiefgang, ein Spiel, das exakt so aussieht, wie ich mir vor Jahrzehnten meine Traumspiele vorgestellt habe, nur noch schöner - und dieses Spiel, das ich damals bei Erscheinen mit Interesse und Wohlwollen besprochen habe, bekommt just jetzt, wenn du diese Zeilen liest, ein mächtiges Update, das mich dazu bewegen wird, noch einmal in dieses Spiel zu starten, egal, ob ich dafür bezahlt werde oder nicht.
Für mich hat das die Frage nach der Liebe dann doch irgendwie beantwortet: Vielleicht liebe ich nicht „Videospiele“ als Ganzes, aber in dieses eine bin ich - genau jetzt, wie so oft, und hoffentlich immer und immer wieder, und immer wieder von Neuem - verknallt.
Ich glaube, das ist genug.
Dein Rainer
Bild: Midjourney, Prompt: virgin with sacred heart + realistic heart + human organ + anatomical reference, photography, Renaissance art, gloomy, chiaroscuro, cold light, by Jan van Eyck