Jeden Tag Ostern
Wien, 22.4.2022
Liebe Leserin, lieber Leser,
Ja, okay, Ostern liegt schon wieder eine Woche hinter uns, aber eigentlich egal, denn was ich sagen will: Ostern hat sich überlebt, zumindest in Videospielen. Ja, ich geb’s zu, was provokante Einstiege in diesen Briefwechsel betrifft, gehört dieser eher zu den fragwürdigen, aber ich will auf etwas Relevantes hinaus - vertrau mir. Nämlich genauer: Nicht unbedingt Ostern hat sich überlebt, sondern die klassische Ostereiersuche. In Videospielen.
Genau: Easter Eggs in Videospielen, also die ganzen kleinen Geheimnisse, die von den MacherInnen an verschiedenen unwahrscheinlichen Orten im Spiel zu finden sind. Ich mag ja den Gedanken, dass die historisch ersten Easter Eggs in Spielen eine bewusste, heimliche Insubordination gegenüber den bösen Corporate Overlords der ganz frühen Videospielgeschichte waren. In Zeiten, als vermeintlich ewige Industrietitanen wie Atari ihren Angestellten gegenüber peinlich genau darauf achteten, dass sich diese gefälligst nur als namenlose Handwerker und Techniker verstehen durften, fanden Games-Entwickler wie Warren Robinett dann doch noch eine Möglichkeit, namentlich in ihrem eigenen Werk vorzukommen. In seinem Spiel Adventure für Atari 2600 versteckte er 1980 heimlich einen Screen, auf dem stolz sein Name prangte: „Created by Warren Robinett“, war da zu lesen. Das der Legende nach erste Easter Egg der Games-Geschichte.
Wie bei allen guten Legenden gibt es auch hier verschiedene Versionen, so etwa die, dass die Nicht-Nennung der Schöpfer im Spiel eher den Sinn gehabt habe, die talentierten Kreativen weniger leicht abwerbbar zu machen. So oder so: Die ersten „Easter Eggs“ waren simpler Natur, und so blieb das noch eine ganze Weile. John Romeros abgehackter Kopf irgendwo hinter einer Wand in Doom 2 steht so gesehen in einer langen und altehrwürdigen Tradition.
Die meiner bescheidenen Meinung nach ganz, ganz große Ära der Ostereiersuche in Videospielen findet nicht zufällig ihren Höhepunkt rund um den Jahrtausendwechsel. Vielleicht gibt es noch großartigere Beispiele, aber ich halte ja den geheimen Kuh-Level in Diablo 2 aus dem Jahr 2000 für den unübertroffenen Gipfel dieser schelmischen Konversation zwischen Fans und Spieleentwicklern. Weil sich beim Vorgänger aus dem Jahr 1996 hartnäckig das Gerücht gehalten hatte, dass irgendetwas Cooles passieren würde, wenn man alle auf der Weide herumstehende Kühe anklickt, spendierte Blizzard allen Suchenden im Nachfolger eine spektakuläre Überraschung.
Um den Secret Cow Level, auch bekannt als Moo Moo Farm, betreten zu können, war allerdings einiges an Vorarbeit nötig, wie es sich für eine anständige Eiersuche eben auch gehört. Die Kunde vom komplizierten Weg dorthin verbreitete sich per Mundpropaganda auf Schulhöfen und in den Tipps-und-Tricks-Sektionen zerfledderter Print-Magazine. Mit etwas Glück gab’s einen verwaschenen Screenshot dazu. Die Verlockung und die Vorfreude auf das Gefühl, dieses irre Ding einmal selbst mit eigenen Augen gesehen zu haben, machte den Aufwand, Diablo 2 genau danach abzusuchen, absolut worth it.
Vielleicht, liebe Leserin, lieber Leser, weißt du schon, worauf ich hinauswill: Ja, im Jahr 2000 war einiges anders als heute, in Sachen Ostereiersuche in Videospielen betrifft das eindeutig die Nichtverfügbarkeit von Informationen. Natürlich gab’s schon Internet, klar konnte man sogar Diablo 2 genau deshalb auch online mit Freunden spielen, aber YouTube, den großen, allumfassenden Enthüller aller Geheimnisse, gab es bis 2005 noch nicht.
Um’s anders zu sagen: Wer damals, 2000, sehen wollte, wie das Mega-Osterei in Diablo 2 denn nun tatsächlich aussah, hatte kaum eine Wahl, als selbst zu suchen. Mal ehrlich, geh in dich: Wäre dir das heute noch im schlimmsten Fall ein paar Stunden Vorbereitungszeit und Suchaufwand wert? Oder würdest du nicht auch lang vorher ein gepflegtes „whatever“ schnauben und dir das Ding einfach beim YouTuber deines Vertrauens ansehen, der zwölf Cow-Runs mit verschiedenen Builds im Angebot hat? Unsteile These: Der Informations-Overload des Internet-Zeitalters hat dafür gesorgt, dass auch hier anstelle des aktiven eigenen Erlebens ein Stellvertreterkonsum getreten ist.
Wieso ein Ei mühsam suchen, wenn es per Mausklick sofort verfügbar ist? Für die Aura? Verdammtes Erfolgserlebnis im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit! Wie gut, dass es Achievements und Trophies gibt, sonst könnte man im Freundeskreis nicht mal mehr beweisen, dass man dort war. Wie’s dort aussieht, kann ja schließlich jede*r in Sekundenschnelle auch ohne eigenen Eierlauf nachsehen.
Das könnte jetzt nach trauriger Klage über die modern times klingen, aber Halt: Der Untergang des Ostereiersuchens bedeutet nun ja nicht, dass die Geheimnisse aus Spielen verschwunden wären, im Gegenteil. Wie ich ja hier in einem früheren Brief schon mal geschrieben habe, ist okkultes Gamedesign a thing, und zwar gewissermaßen der verdammt groß gewordene wahre Erbe des digitalen Eierversteckspielens. Nur dass in Spielen wie Inscryption, Frog Fractions oder La-Mulana das Aufdecken eines gewieft versteckten Geheimnisses nicht die kecke Zuspeise, sondern gleich der ganze Hauptgang ist, a riddle wrapped in a mystery inside an enigma. Oder, um es mit den Worten des großen afroamerikanischen Populärphilosophen Xzibit zu sagen: Yo dawg, I heard you like secrets in your videogames? We put a secret in your secret in your videogame, so you can find secrets while you look for secrets.
Und das alles, wie es sich gehört im ansonsten ehrlich gestanden nicht nur Hippies verdammt enttäuschenden Age of Aquarius: im Kollektiv, also gemeinsam mit anderen Wahnsinnigen weltweit, die sich dabei überschlagen, in kollaborativen Exegeseprojekten wie dem Elden Ring Wiki Osterei um Osterei aus dem Ostereierbergwerk herauszurollen, und das Tag für Tag für Tag. Gewissermaßen: jeden Tag Ostern! Wenn das der Heiland wüsste.
Dein
Rainer
Bild: Midjourney, Prompt: easter egg, pop art, painting, highly detailed