Wien, am 14.4.2023
Liebe Leserin, lieber Leser,
wo Lovecraft recht hat, hat er recht: “Die älteste und stärkste Emotion der Menschheit ist die Angst, und die älteste und stärkste Art der Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.” Das hat nicht nur als Einblick in Lovecrafts literarisches Genre des Horrors, sondern auch als Kurzzusammenfassung so gut wie jeder rassistisch motivierten rechtsextremen Politik Bestand.
In der Popkultur, besonders in ihren weniger reflektierten Ecken, wird diese Erkenntnis oft zu wenig gewürdigt. Besonders in Videospielen weicht die Angst vor dem Unbekannten deshalb meist schnell dem vertrauten Umgang mit dem bewältigbar Bekannten: Wenn sich ganze Horden an Pixeltentakelmonstern tausendfach vor meinen Gewehrlauf stürzen, geht damit symbolisch auch das Besiegen meiner Angst einher.
Videospiele sind Wiederholung und Wiederholbarkeit, Spielmechanik und Trial & Error; das Unbekannte, oder gar, noch ein Stück unheimlicher: das Irrationale hat in seinen Horrormomenten deprimierend selten wirklich Platz. Als Hybriden aus Schießbude, Achter- und Geisterbahn wollen sie uns erschrecken, aber, in der Erleichterung danach, auch zum Lachen bringen, über die eigene Angst, über das abflauende Adrenalin, über das Ding aus Polygonen und Texturen, das jetzt, nachdem wir es erlegt oder zumindest hinter uns gelassen haben, gar nicht mehr so gruselig ist.
Die beiden ersten Teile der “Alien”-Filmreihe sind faszinierend, weil in ihnen die längste Zeit das Grauen, das von HR Giger beispiellos fremd gezeichnete und uns leider heute viel zu vertraut gewordene Xenomorph, eben nicht gezeigt wurde. Stattdessen mussten sich die Crew der todgeweihten Nostromo und die Colonial Marines des zweiten Teils über weite Strecken der Filme hinweg mit dem angsterfüllten Blick auf Monitore und Motion Tracker begnügen, die statt der Bedrohung selbst unförmige, weiß flackernde Blobs anzeigten, begleitet vom charakteristischen elektronischen Pingen der Bewegungssensoren.
Manchmal ist der Blick auf einen kleinen monochromen Monitor gruseliger als jeder Mann im Gummianzug, als jede noch so fotorealistisch gerenderte Hochglanzgrafik.
Das Objekt des Horrors, als neuplatonischer Schattenwurf oder besser: gespiegelt und reflektiert in Monitoren, Statusbildschirmen, Scannern, ist gerade deshalb so furchterregend, weil wir es nicht direkt sehen. Eigentlich ist es überraschend, dass sich nicht bedeutend mehr Videospiele dieses Themas, dieses Settings und dieser Ästhetik angenommen haben. Immerhin ist der Blick auf den Monitor und damit auf das Unbekannte, das unleugbar da ist, aber sich noch nicht vollständig offenbart hat, gleichzeitig nicht nur der unserer Spielfigur, sondern unser eigener.
Ein paar wenige Games nutzen diese Gleichsetzung von Spieler und Blick auf die Welt als zentrales Spielelement, und ich freue mich jedes Mal, wenn ein neues in dieser Mikronische erscheint. Ich möchte sie Interface Horror nennen.
Das Spannende an diesen Spielen ist für mich, wie sie eine der größten Hürden zwischen uns und der Welt des Spiels für sich nutzen und umdeuten: Der Blick auf unseren Monitor zeigt nicht mehr wie sonst eine andere, virtuelle Welt, sondern schiebt eine zusätzliche Ebene dazwischen. In Interface-Horror-Spielen bedienen wir Maschinen, durch ein Interface, das sich auf eine noch weiter dahinterliegende Welt bezieht, diese aber nur indirekt vermittelt.
Das Interface ist hier nicht toleriertes Hindernis zwischen mir und der virtuellen Welt, eine hingenommene Krücke auf dem Weg zur Immersion, sondern deutlich und selbstbewusst das Fenster zu dieser Welt hinter dem Bildschirm.
So wird dann auch das Bedienen dieses Interfaces zum Kern des Gameplays. Das wohl prominenteste Spiel der Nische ist Duskers, das sich 2016 durch seine Tastatursteuerung auch in Sachen Gameplay sogar noch tiefer in diese Gleichsetzung von SpielerIn und “Operator” in dieser Welt hineingewagt hat; wenn du es noch nicht gespielt haben solltest: Tu es.
Mein Herz schlägt jedoch auch für die weniger bekannte Deadnaut-Reihe, deren erster Teil sogar schon etwas früher, nämlich Ende 2014, dasselbe Kunststück versuchte und dabei eine überraschend umfangreiche Dark-SF-Kulisse vor uns ausbreitet: der Weltraum als gewaltiger Friedhof, voll mit Raumschiffen als schwebende Särge, in denen die Überreste längst ausgestorbener Zivilisationen schlummern. Was in der Welt von Deadnaut als hoffnungsvoller Aufbruch zu den unendlichen Weiten beginnt, verwandelt sich schnell zum organisierten Grabraub, in dem wir als Spieler aus dem sicheren Gefechtsstand mehrköpfige Trupps aus, eben, Deadnauts ins mehr oder weniger sichere Verderben lotsen. Usere Antihelden sind dabei ein Haufen todgeweihter, austauschbarer Marionetten, die dennoch ein Eigenleben entwickeln.
Vor kurzem ist ein zweiter Teil zu diesem Spiel des australischen Indie-Entwicklers Screwfly Studios erschienen, mit dem Untertitel Signal Lost, und der ist der direkte Anlass für diesen Brief. Statt eines kleinen Trupps steuere ich hier nur mehr einen einzelnen Soldaten, statt in Echtzeit läuft alles rundenweise ab, mit anderen Worten: Deadnaut: Signal Lost ist ein überraschend klassisches, kompaktes Roguelike, allerdings eines, das sich mit seiner immer noch außergewöhnlichen Präsentation als Spiel für all jene empfiehlt, die sich der Faszination des niemals gesehenen, aber jederzeit bedrohlichen Unbekannten in Videospielen so nahe fühlen wie ich.
(Dass dieser Reiz, inklusive der Freude an seiner zynischen, bitterbösen SF-Welt, nicht universal geteilt wird, hat sich mir damals 2014 an der Tatsache gezeigt, dass die freundlichen Menschen von Superlevel, bei denen ich damals ebenso eine Kolumne namens Brief & Sigl bespielen durfte, auf diese verspielte Fanfiction aus meiner Feder mit ratlosem Unverständnis reagierten. Ich muss zugeben: Ich find’s immer noch lustig.)
Anyway: Wer weitere Interface-Horror-Games sucht, findet mit Nauticrawl, Capsule und dem streng genommen ein wenig aus der Reihe fallenden Iron Lung einen spannenden Einstieg.
Allen gemeinsam übrigens: Zu sehen gibt’s das Unbekannte nicht; umso eindrücklicher sorgen die jeweiligen Soundkulissen für Gänsehautmomente. Dass Sound im Horror wichtiger als Optik ist, ist damit erneut bewiesen.
Wenn ihr relevante weitere Beispiele für diese Nische auf Lager habt, lasst es mich in den Comments auf Substack wissen. Bis dahin: Kopfhörer aufsetzen und im Interface Horror schwelgen. Ich tu’s.
Dein Rainer
PS: Ich hab euch ja gewarnt, dass ich hier hin und wieder auch auf anderes verweise, was ich im Netz so mache, warum dann nicht auf das: In der Nummer 24 meiner Radiosendung zum Thema spannender Musik aus aller Welt mit dem Namen “The Trip” geht's diesmal von lichten Gospel-Höhen zum tiefsten, ruhigen Meeresboden. Eine Stunde bemerkenswerte Musik, die euch verschickt: Anhören nur hier.
Bild: Midjourney, Prompt: Interface Horror
Concrete Tremor würd auch noch gut in die Liste passen, allerdings eine sehr kurze Experience: https://mikeklubnika.itch.io/concrete-tremor