Wien, 11.9.2023
Liebe Leserin, lieber Leser,
hätte ich diesen Brief schon letzte Woche geschrieben, wäre er unter Umständen ein ganzes Stück düsterer ausgefallen, denn irgendwie war ich da kurzzeitig ziemlich davon überzeugt, dass das ewige Match Hype gegen Kritik unwiederbringlich zu Ende gegangen ist, und zwar mit einem KO.
Jetzt sind ein paar Tage vergangen und ich bin milder gestimmt; nicht was den Ausgang dieses Matchs betrifft (immer noch ein KO), sondern in Bezug auf seine Bedeutung.
Falls du nicht in einer Höhle wohnst, hast du vermutlich den Start von Starfield mitbekommen, und falls du aufmerksam warst, hast du auch von den seltsamen Bedingungen rund um die Rezensionen des Spiels etwas mitgekriegt. Die erste, und irgendwie ebenso offensichtliche wie deprimierende Besonderheit war der Fake-”Early Access”, der es KäuferInnen ermöglichte, gegen Aufpreis schon eine Woche früher als der Pöbel ins neue Bethesda-RPG zu starten. Das ist zum einen der extrem durchsichtige Versuch, den Superfans im Hypefieber einen Extrabatzen Kohle aus der Tasche zu ziehen, andererseits natürlich auch ein zusätzlicher Hype-Turbo für ein Publikum, das gebannt Influencern auf Twitch etc beim Anspielen zusehen darf - das Warten am Rand des roten Teppichs sozusagen.
Die zweite war die bemerkenswerte Entscheidung des Publishers, manchen Outlets den Review-Code für das Spiel erst nach Ende des Embargos, einen Tag vor dem Start des “Early Access”, zukommen zu lassen. Eurogamer und RPS, beides Outlets mit bekanntem Hang zur kritischeren Berichterstattung, waren als prominente Spätstarter diesmal nicht unter jenen, die schon am ersten Abend mit ihren Texten zu Starfield online gehen konnten - schlicht deshalb, weil sie den Zugang zum Spiel nicht wie andere schon zwei Wochen zuvor, sondern erst Ende August bekamen.
Zweck der ganzen Übung ist natürlich das sorgsame Management des Hype-Feuerwerks, das ein Spiel wie Starfield momentan besonders nötig hat. Das Ding hat nicht nur dreimal so viel gekostet wie die indische Mondmission, sondern soll endlich der Xbox den lang ersehnten System-Seller liefern, von Microsofts endlos ewigem Activision-Kaufchaos ablenken und den Flop von Redfall vergessen lassen; ganz schön viel Gewicht für ein einzelnes Spiel.
Dass ein Publisher seine Veröffentlichungen bestmöglich absichern will, ist keine Schande. Viel eher, wie sehr die Reste des Videospieljournalismus aus Eigeninteresse inzwischen davon abhängig sind, genau bei diesem Zirkus mitzumachen.
Ich verstehe es ja eh: Die Zeiten sind schlecht, und die kümmerlichen verbliebenen Reste des goldenen Zeitalters des Videospieljournalismus, als man als Gatekeeper den Exklusivzugang zu Informationen, Entwicklern, Spielen UND Werbebudgets hatte, müssen schauen, wo sie bleiben. Da ist jeder Startvorteil recht und billig: Die erste Vorschau, das “exklusive” Bildmaterial vorab, die erste oder zumindest: schnellstmöglich verfügbare Review, aber vor allem: der erste Walkthrough, die ersten Tipps und Strategie-Artikel zum Hype-Game der Stunde sind essentiell, wenn man sich von Klicks finanziert.
Vor fast genau zehn Jahren hat der große Tom Bissell anlässlich seiner differenzierten Rezension von The Last of Us Folgendes angemerkt:
Here’s a dangerously calcified game-industry assumption: For a single-player narrative game to be purchased by all 6 million members of its console’s target audience — to become a “must-have” title — it needs to hit a Metacritic rating no lower than the low 90s. To achieve a Metacritic rating in the low 90s, you must make a game that impresses critics, who by their nature crave novelty, which is the very thing that scares away gamers who buy only three to six games a year, and who are, by far, the largest constituency in the game-buying audience. To impress these critics, you often have to invest in the hardest, most difficult-to-engineer elements of game design and work your employees half to death. All of which means that game companies are spending hundreds of millions of dollars to impress people whose taste is unrepresentative of the wider game-playing audience and whose power to create an impression of “must-have” titles is still largely unproven. If you’re wondering how any of this is sustainable either economically or creatively in the long run, so am I. So is everyone.
Was sich seitdem geändert hat? Die Budgets sind noch weiter explodiert - und das Selbstbewusstsein der Kritiker, die sich vor zehn Jahren noch einen elitären Blick aufs Medium erlauben durften, ist mit ihren Honoraren auf ein Minimum geschrumpft. Ihr Einkommen fließt inzwischen an eine ewig wachsende Gruppe aus Entertainern auf Twitch, TikTok und YouTube, die sich statt mit Kritik lieber im enthusiastischen Hype-Gefühlsbad mit ihrem Publikum emotional verbrüdern. (Ausnahmen bestätigen die Regel. I know.)
Moment: Wozu braucht die Industrie dann eigentlich noch die journalistischen Outlets, die man, früh oder spät, doch noch bemustert? Böse gesagt: als Dekoration. Auf diesem “Accolades”-Sujet von Starfield versammeln sich 56 Jubel-Wertungen von diversen Publikationen; von zwei Dritteln davon hatte ich zuvor noch nie etwas gehört. Auch der ehemalige Kotaku-Autor Luke Plunkett kommentierte dazu auf Bluesky:
there are 56 scores here and i have not heard of 24 of these websites
one of them has 1700 twitter followers and has reviewed four games in 2023. including this one.
Funktioniert das? Who knows. Ich habe zumindest den Verdacht, Starfield hätte sich, ob mit mehr oder weniger Hype-Akrobatik, fast gleich verkauft. Das macht in gewisser Weise die geballte Ladung Beeinflussungsgewalt noch ein bisschen ärgerlicher.
Wie oben gesagt: Das Match Hype gegen Kritik, Journalismus gegen Marketing, hat Hype seit Ewigkeiten gewonnen; das hat mir der Launch von Starfield, der so gut wie alle verbliebenen Seiten des klassischen Videospieljournalismus in ein ermüdendes Wiederkäuen von StarfieldStarfieldStarfieldStarfield verwandelt hat, nur mit verstärkter Bitterkeit wieder vor Augen geführt. Die absurde Diskussion über Zahlenwertungen, die den ohnehin bei AAA lächerlichen Spielraum zwischen 7 und 10 zum erbittert umkämpften Fanboy-Schlachtfeld macht, setzt dem entwürdigenden Schauspiel die Krone auf.
Der klassische Videospieljournalismus hat großteils seine irgendwann einmal existente Funktion, Kritik zu üben, inzwischen fast völlig eingebüßt; seine Abhängigkeit vom Hypezirkus ist so vollkommen, dass fundamentale Kritik in kommerziellen Publikationen und vor allem: eine Verweigerung der Teilnahme an der PR-Inszenierungstaktung ökonomisch unmöglich geworden ist.
Die gute Nachricht, trotzdem? Man kann nicht alles kaufen. Die Kritikfähigkeit im Publikum, die lebt. Das beweist mir der herrlich differenzierte Blick zahlloser “Amateur”-Rezensenten auf Steam und Twitter, die es selbstverständlich schaffen, ein komplexes Spiel auch abseits seines Hype-Tamtamms kritisch einzuordnen. Ich sag’s: Diese Fähigkeit vermisse ich bei manchen, die sie beruflich eigentlich haben sollten.
Ob der Kaiser nackt ist oder zumindest Unterwäsche an hat, sieht man irgendwie dann doch, sobald Embargos, Hype-Feuerwerksnebel und Wertungsgezanke sich verzogen haben. Und der Kontrast zum Marktgeschrei ist dann vielleicht gar so groß, dass es peinlich wird.
Eigentlich noch mehr Grund, die Sinnhaftigkeit der ganzen Übung zu hinterfragen. Hate to say: I told you so.
Dein Rainer
Good to read you again, Rainer! :) Danke für den gewohnt subtilen Brief und die FM4-Rezension (hoffe dir ist nicht schad um die Zeit, die du mit dem Spiel verbringen musstest).