Happy Noob Year
Wien, 31.12.2021
Liebe Leserin, lieber Leser,
während ich diesen Brief schreibe, schleppt sich das alte Jahr noch mühsam die letzten Meter seinem unspektakulären, aber überfälligen Ende entgegen. Ich bin mir nicht ganz sicher, was zu Silvester eigentlich gefeiert wird - dass ein neues Jahr beginnt, frisch und unverbraucht wie ein soeben aus dem Cellophan gerissenes Pack Spielkarten? Oder eher, dass das alte Jahr endlich, endlich zerknüllt, in den Abfall gepfeffert und in hohem Bogen auf den Müll gekickt werden kann? Ich neige letzterer Emotion 2021 mehr zu, aber: Wer weiß, was nachkommt.
Trotzdem, klar: Anfänge sind gut. Um den Schlenker hin zu Games zu machen: Nie ist die Freude größer, eine neue Spielwelt kennenzulernen, als ganz zu Beginn, wenn man alles noch sozusagen mit ganz frischem Blick betrachtet. Ich weiß etwa noch sehr gut, wie mich das erste Mal die atemberaubende Schönheit von „Destiny 2“ umgehauen hat. Riesige Kristallberge, Atmosphären voller fremder Farborgasmen, titanische Landschaften und Ruinen, so erhaben, dass man bei ihrem ersten Anblick nur mit offenem Mund dastehen und mit den Ohren schlackern kann.
Muss wohl ziemlich witzig ausgesehen haben, wie ich als Noob bei diesem Koop-Ausflug andächtig wie ein Supertouri alle paar Meter stehengeblieben bin und die Gegend angestarrt habe. Meine abgehärteten MitspielerInnen waren da schon längst über alle Berge, mit Vollgas waren sie durch diese unfassbar grandiose Kulisse Richtung Objective gesprintet, souverän Mobs zerballernd, wie Pendler auf dem Weg zur U-Bahn, zur Arbeit, zum Meeting. Zeit, an den virtuellen Blümchen zu schnuppern oder sich einfach nur ANZUSEHEN, WAS DA IST, hatte da keiner mehr. Abgesehen davon, dass sich die Megakulisse von „Destiny“ nach wirklich kurzer Zeit als eben das herausgestellt hat: als Kulisse, reiner Schauwert, hübsch, aber funktionslos, leer, Textur und Skybox.
Hin und wieder denke ich an diese umwerfend talentierten Grafiker und Science-Fiction-Artists, die ihr Talent, Herzblut und Können in den Dienst dieser Verschwendung gestellt haben. Ich hoffe, sie werden wenigstens anständig dafür bezahlt, dass ihr Werk nur halb wahrgenommene Tapete ist, vor der blind der reinen Effizienz nachgejagt wird. Ich selbst habe „Destiny“ schon bald wieder beiseite gelegt, auch ein bisschen aus Groll exakt darüber. Anders gesagt: Ich habe mich verabschiedet, bevor das Gefühl der Ehrfurcht über eine Expedition in diese Welt zur Gedankenlosigkeit eines banalen Arbeitswegs werden konnte.
Es ist ein komisches Paradoxon: Je besser ich in der Interaktion mit einem Spiel werde, desto weniger nehme ich es in seiner Gesamtheit wahr. Es ist das Problem des „Play Brain“, so hat es meines Wissens zuerst der Game-Theoretiker Tadgh Kelly genannt: Unser Gehirn, stets auf Effizienz bedacht, filtert verdammt schnell Relevantes heraus und blendet zugleich alles andere aus. Das „Play Brain“ hat kein Interesse an Subtilität, es sieht gewissermaßen direkt durch das Spiel hindurch auf seine Funktionsangebote.
Eine malerisch überwucherte Steilwand im Dschungel von „Uncharted“ wird vom „Play Brain“ sofort auf den vom Leveldesign einzig möglichen Kletterpfad heruntergekürzt. In einem techno-satanistischen Tempel in „Doom Eternal“, an dessen Wänden Skulpturen eine Jahrtausende alte Horrorgeschichte erzählen, sieht das „Play Brain“ zuallererst die Health-Packs und sucht dann schon den Auslöser des unweigerlich durch Architektur und Konvention angekündigten Bosskampfs. In all den Ubisoft-Open-Worlds genügt dem „Play Brain“ der Blick auf die Minimap, weil die am effizientesten informiert.
Kurz gesagt: Unser „Play Brain“ ist eine verdammte Stressnudel und ein mieser Kunstbanause. Ich beneide Menschen, die diesen kleinen Tyrannen noch nicht im Oberstübchen haben und Spiele sozusagen mit den frischen Augen totaler Noobs sehen dürfen. Das „Play Brain“ abstrahiert, lässt die Deko verschwinden, sieht nur den Mechanismus. Es kürzt weg, bis am Ende der Speedrun steht. Oder nicht mal das, denn für den muss man ganz schön oft sehr kreativ um die Ecke denken.
Immer wollen alle Pro sein; der „Anfänger-Geist“ hat kein hohes Ansehen in unserem Medium, oder vielmehr, Schritt zurück: in unserer ganzen „Hochleistungsgesellschaft“, die Effizienz als oberste Pflicht und Tugend verlangt.
„Im Anfänger-Geist gibt es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten nur wenige“, schreibt der Zen-Meister Shunryu Suzuki in seinem Buch „Zen-Geist, Anfänger-Geist“, und das gilt für so ziemlich alles, auch Videospiele. Als einziges interaktives Medium haben sie das ganz eigene Problem, dass diese Interaktivität immer wieder nach vorn drängelt und sie als audiovisuelles Gesamtkunstwerk konterkariert.
Aber: Ein neues Jahr kommt, oder ist schon da, wenn du das liest. Smell the flowers in „Destiny 2“! Schau dir den Sonnenuntergang in „Far Cry 6“ an! Oder bau deinen Bibern in „Timberborn“ den höchsten Turm, auch wenn es spielerisch überhaupt nix bringt. Kurzum: Happy Noob Year!
Dein
Rainer
PS: WAS unser „Play Brain“ alles so wegkürzt, hat mir die Lektüre dieses Buches wieder einmal gezeigt. Aber über die Spiele von Hidetaka Miyazaki werden wir hier sicher noch einmal etwas zu besprechen haben.
Bild: Midjourney, Prompt: Exhaustion, anatomical illustration, detailed, poster