Wien, 28.4.2023
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich sag’s jetzt einfach: Dead Island 2 ist ein Cozy Game. Außerdem, okay, ist es ein Spiel, in dem ich mit scharfkantigen Metallgegenständen stundenlang auf von Leichenwasser aufgequollene Kadaver in zerlumpten Freizeitklamotten einhaue und durch eine blutige Apokalypse wandere.
Exakt mit diesem nur scheinbaren Paradox hat es zu tun, dass Dead Island 2 so ein erstaunlicher Publikumserfolg ist - nach drei Tagen hatte sich das über zehn Jahre in der Development Hell feststeckende Spiel schon eine Million Mal verkauft. Dead Island 2 ist nicht originell, seine Nahkampfmechaniken sind simpel, seine Story ist banal und alles, wirklich alles hat man so oder so ähnlich schon gesehen, und das seit über zwei Jahrzehnten. Metascore 74, das ist ein Desaster für ein AAA-Spiel, noch dazu eines mit derartiger Produktionsdauer.
Trotzdem ist Dead Island 2 ein Erfolg, ein kommerzieller, wenn schon kein kritischer. Weil es ein Spiel ist, das - ironisch, angesichts seiner Entstehungs-Odyssee, und mehr noch angesichts seines inzwischen eigentlich hyperbanalen, vermeintlich auserzählten Settings - die vielleicht sogar unbewussten Bedürfnisse seines Publikums erkennt und zufriedenstellt.
Fast sechs Jahrzehnte herrscht Zombiemania in der Popkultur, rechnet man mit Romeros Film Night of the Living Dead aus dem Jahr 1968 als ungefährem Startpunkt einer breiteren Popularität. Seit dem Millennium steigert sie sich in ungeahnte Höhen, und Videospiele sind daran mit schuld. Kim Newman benennt in seinem Buch Nightmare Movies (2011) Japan als Ausgangspunkt der erneuten Zombifizierung der Popkultur, Resident Evil und House of the Living Dead hatten etwas damit zu tun, dass auch im Kino und im TV die Untoten erneut auferstanden.
Während der Wikipedia-Artikel zum Schlagwort allerdings 2015 als Datum für das erneute Abflauen des filmischen Interesses nennt, bleiben die Untoten in Games ungebrochen populär. The Last of Us, Days Gone, Day Z, Remakes von Resident Evil und Dead Space, Dying Light, State of Decay, Project Zomboid und, und, und: Die - offensichtlich - anhaltende Faszination des interaktiven Mediums für dieses Horrorthema beginnt mehr als nur vielsagend zu werden.
Ich muss an dieser Stelle nicht darauf hinweisen, dass sich hinter dem vermeintlich simplen Monstertopos schon seit Romeros Werken eine vielschichtige, intellektuell ergiebige und stets soziografisch und historisch spannende Interpretierbarkeit ausmachen lässt. Von Vietnamkrieg und Rassismus, Konsumkapitalismus, Proletariat, der Brüchigkeit moderner Identitäten, Rollen, Familien und Gesellschaftskonventionen reden alle guten Zombie-Filme; manche Spiele leisten das auch, wenn auch teils nur halb bewusst, ohne Absicht. Dass Dead Island 2 sein Thema vom Untergang der Welt nun in eine Art tröstliche Apokalypse überführt, scheint mir aktuell ziemlich bemerkenswert.
Ja, es ist tröstlich, wie in diesem Los Angeles schon ganz zu Beginn die Wohnhäuser der Superreichen in Beverly Hills als entvölkerte Luxusruinen vor uns liegen. Es ist tröstlich, wie dem Schmerz über diesen Untergang pragmatisch wenig Raum gegeben wird; erfrischend, wie wenig die altbekannten Klischees vom Menschen, der viel mehr als die Untoten des Menschen Wolf ist, hier erneut ausgewalzt werden. Der Trek durch das apokalyptische Los Angeles ist kein dramatisch-tragisches Road Movie wie in The Last of Us, das Überleben in dieser Welt kein Abstieg in eine barbarisch-melancholische Traurigkeit wie in Days Gone. Dead Island 2 ist fröhliche Untergangs-Anarchie statt angstschönem Depressionsintellektuellengetue, eine laute im Gegensatz zur leisen Apokalypse, wie sie in modernen Zombiefilmen wie etwa La nuit a dévoré le monde als Parabel auf die Isolation des modernen Individualismus gezeigt wird.
Dead Island 2 spart sich diese Gesten. Eigentlich, so stellt man nach ein paar Stunden in dieser Welt fest, ist dieser Weltuntergang kein Grund zur Melancholie. We get it: Die Welt ist im Arsch.
Dass auf diese Erkenntnis keine resignative Depression, sondern grimmige Fröhlichkeit folgt, mag man als plumpen, pubertären Splatterporn abtun, aber es steckt auch viel therapeutische Katharsis darin. Dead Island 2 nimmt unsere ganz reale Angst vor der Endzeit, in der echten Welt in Form von Klimakollaps, Pandemie, Atomkriegsgefahr, Kriegstrauma und wirtschaftlicher Dauerkrise, und konfrontiert uns auf zweifache Weise rustikal-direkt mit der existenziellen Auslöschung: zum einen in Form der hier eingetretenen totalen Auflösung unserer zivilisatorischen Ordnung, und zum anderen mit der ebenso gründlich demonstrierten Atomisierung unserer Körper selbst. In tausendfach wiederholter Banalität sehen und tun wir hier das Schlimmste: Knochen zerbersten, Blut trieft, Köpfe platzen, Gliedmaßen fliegen, Körper zerbrechen in ihre Einzelteile.
Dead Island 2 ist profanes Orgien-Mysterien-Theater als Pop.
Als intellektueller Hipster mit Bildungsauftrag hau ich euch deshalb - Weltpremiere in einem Videospiel-Newsletter - gleich das dazupassende Konzept des oben verlinkten österreichischen Blutkünstlers Hermann Nitsch aufs Auge:
das schöpferische ist seinem wesen nach mit überwinden, abstossen und beseitigen von hindernissen verbunden. lebendige entfaltung, sich erweiternder lebensaufwand, stösst auf naturgegebene hindernisse und bringt leid und schmerz, fordert zum schmerzvermischten glück der überwindung auf. der mythos von tod und auferstehung bietet sich als gleichnis des schöpferischen an, die analytische technik des spieles verhilft uns dazu, uns totaler, rücksichtloser und umfänglicher zu begreifen bis tief hinein in die uns normalerweise unbekannte wirklichkeit unserer triebhaftigkeit.
Dass unser Held nach jedem Bildschirmtod einfach ein paar Meter weiter hinten wieder auf die Beine kommt und erneut nach vorne spaziert, um stressfrei weiter sein Ding zu machen, ist eine Pointe, die zwar der Gameplaykonvention geschuldet ist, aber trotzdem dazu passt. Die Welt ist im Arsch; was uns bleibt, ist - eben - das schmerzvermischte Glück der Überwindung.
Ich sag’s ja: Dead Island 2 ist ein Cozy Game. Und irgendwie ist mir das inzwischen viel lieber als all der Apokalypsenkitsch.
Dein Rainer
Bild: Midjourney, Prompt: Very wide angle shot. Full body death and the maiden