Counter-culture
Wien, 3.9.2022
Liebe Leserin, lieber Leser,
vor kurzem hat mich ein Tweet zum Grübeln gebracht, und offen gesagt habe ich bis jetzt nicht aufgehört, darüber nachzudenken. Der Games-Doku-Filmemacher Jeremy Jayne stellte seinen Followern eine auf den ersten Blick recht simple Frage: „What are some video games that you feel are legitimate pieces of counter-culture?“
Schon bei der Übersetzung dieser Frage stößt man auf ein Problem, denn das englische „counter-culture“ lässt sich meiner bescheidenen Meinung nach nur unscharf übersetzen. Unser guter Freund Wikipedia sagt dazu: „A counterculture is a culture whose values and norms of behavior differ substantially from those of mainstream society, sometimes diametrically opposed to mainstream cultural mores“ - too English, didn’t read: „Counter-Culture“ wäre eine Kultur, deren Werte und Normen sich substanziell von jenen der Mainstream-Gesellschaft unterscheiden und manchmal deren kulturellen Gepflogenheiten diametral entgegengesetzt sind. Es folgt der Verweis auf die Wichtigkeit spezifischer Zeitspannen, in denen solche Bewegungen ihre Wirkungsmacht entfalten; die prominenteste und am meisten mit diesem Begriff assoziierte „Counter-culture“-Ära war zweifellos jene der 60er-Jahre, der im Englischen gar ein eigener Wikipedia-Eintrag gewidmet ist. Jimi Hendrix, William Burroughs, die Nouvelle Vague im Kino, Underground-Comics, Sam Peckinpah - aus der Counter-Culture speisten sich neue Ästhetiken, Philosophien, Bewegungen.
Im Deutschen liest sich das nüchterner: „Gegenkultur beschreibt eine bestimmte, längerfristig gesellschaftlich wirksame Untergruppe einer gegebenen Kultur. Im Gegensatz zu einer ,Subkultur‘ wird […] unter ,Gegenkultur‘ das Infragestellen von primären Werten und Normen der Mehrheitskultur verstanden.“
Die Frage, welche Videospiele sich so beschreiben lassen könnten, beschäftigt mich, weil ich keine gute Antwort darauf gefunden habe, und die 35 Antworten unter dem Original-Tweet meiner Meinung nach auch eher nur Ratlosigkeit widerspiegeln. Wie jetzt: Beim größten, lukrativsten und vermutlich wirkmächtigsten Populärmedium der Gegenwart, mit überwältigend großer Breite vor allem bei jugendlichen Zielgruppen ist zum Stichwort „Gegenkultur“ nur das globale Zirpen von Grillen zu hören, während eine Steppenhexe vorbeiwackelt?
Kommt dir das bei näherem Drübernachdenken nicht auch ein bisschen komisch vor? Fernsehen, Radio, Comics, Musik, Film, Literatur, Theater, Sport, Bildende und Darstellende Kunst können mit lässigem Kopfnicken auf jede Menge Counter-Culture-Geschichte verweisen, die zumindest irgendwann, in den beginnenden 70ern, mal da war. Ja, Games sind spät dran, als es mit ihnen richtig losging, waren die Hippies schon längst Anwälte und Banker. Trotzdem sollte da etwas sein. Oder?
Die Beispiele, die in den Antworten zum Tweet gebracht werden, überzeugen mich nicht, sorry. Die Spiele von Paolo Pedercini oder Lucas Pope sind eben nicht „counter-culture“, sondern fügen sich als sperrige, aber dennoch integrierte intellektuelle Avantgarde in den Medienkanon ein. Die irgendwann mal punkig-dreckigen Indies von Hotline Miami abwärts sind Millionen-Bestseller. Was sonst noch unter anderem so genannt wurde, Achtung, Lachflash possible: Bioshock Infinite (WTF), Metal Gear Solid 2 (srsly), Watch Dogs 2 (uh-huh), Nier Automata (nnnnnaja) und Stray (über dieses Missverständnis habe ich dir ja schon neulich etwas geschrieben). Ich mag jetzt nicht im Detail aufdröseln, wieso das allesamt IMHO Themenverfehlungen sind. Vereinzelte andere Nennungen, etwa der sehr weirden, speziellen Indie-Nischenspiele Cruelty Squad oder Umurangi Generation, wären schon eher diskutabel.
Aber egal: Alleine die Tatsache, dass kaum jemandem, mich eingeschlossen, nicht zumindest eine Handvoll Spiele eingefallen sind, die sich unbestritten und tatsächlich als Werke einer Gegenkultur verstehen können, als Artefakte einer „bestimmten, längerfristig gesellschaftlich wirksamen Untergruppe einer gegebenen Kultur“, die „das Infragestellen von primären Werten und Normen der Mehrheitskultur“ als Thema haben, ist zugleich erstaunlich und deprimierend.
Sind Videospiele als hyperkapitalistisches Konsummedium so unreflektiert und zugleich erfolgreich, dass sie jedes Aufblühen von klassischer Gegen- oder zumindest Subkultur, wie sie etwa Anna Anthropy in ihrem auch schon wieder zehn Jahre alten Manifest „Rise of the Videogame Zinesters: How Freaks, Normals, Amateurs, Artists, Dreamers, Drop-outs, Queers, Housewives, and People Like You Are Taking Back an Art Form“ hoffnungsfroh am Horizont gesehen hat, in Windeseile assimilieren und verkaufbar machen? Dass aus nihilistischen Nerd-Punks wie Jonathan Söderström AKA Cactus im Handumdrehen zynische Millionäre werden, die mit einem ironisch überdrehten Ultraviolence-Thriller wie Hotline Miami einem desensibilisierten Publikum einfach die noch ein bisschen rohere Dosis verkaufen können?
Bedingt das unbeschreiblich rasante Wachstum des globalen Publikums einfach einen Mainstream, der so reißend wächst und anschwillt, dass daneben keine Counter Culture Platz findet? Kann sich keine Gegenkultur bilden, weil die Menschen, die daran Interesse haben könnten, samt ihrem möglicherweise interessierten Publikum dem Medium vom Erwachsenenalter samt Arbeitsleben und Windelwechseln wieder entrissen werden?
Irgendwann, so könnte man dagegen auch argumentieren, war vielleicht aber sogar das Videospiel an sich, das ganze Medium, eine Art „Gegenkultur“: gesamtgesellschaftlich verpönt, auf eine Nische beschränkt, Angriffen und Unverständnis ausgesetzt. Ja, vor knapp 30 Jahren genügte es, ein Massenprodukt wie Doom zu spielen, um sich in einer Kultur wiederzufinden, „deren Werte und Normen sich substanziell von jenen der Mainstream-Gesellschaft unterscheiden und manchmal deren kulturellen Gepflogenheiten diametral entgegengesetzt sind“; das war dann aber wieder eine von anderen, damals schon fast arrivierten Medien inspirierte, beinahe klassische Gegenkultur aus letztlich juvenilem interaktiven Deathmetaltrashcomichorrorschlock. War okay, versetzte die US-Öffentlichkeit in die letzten Ausläufer der satanic panic und führte diesseits des Atlantiks zu einer „Killerspieldebatte“, die man so vielleicht auch als Verhandlung über den Gegenkulturstatus des Mediums Videospiele allgemein lesen könnte.
Nur: Die Zeiten sind vorbei, auch wenn sich manche Ewiggestrige nach wie vor im romantischen Abwehrkampf gegenüber der bösen Massengesellschaft da draußen wähnen, die „unser Hobby“ nicht verstehen kann und deshalb verbieten will. Ein Abwehrreflex, der übrigens bis heute dazu führt, dass jede egal wie fundierte und berechtigte Kritik automatisch und bequem als Bullshit abgewehrt werden kann. In der Mitte der Gesellschaft und zugleich nur mit Gleichgesinnten im sorgsam bewachten Baumhaus, in dem jeder sexistische Witz nur Spaß, die Gewalt stets ironisch und jeder Kritiker kein echter Schotte, pardon: G4m0r ist - da hapert’s heftig. But I digress.
Um zur Anfangsfrage zurückzukehren: Ja, wo sind verdammt noch mal die Spiele, die 2022 in einem Medium wie unserem als Ausdruck einer wie auch immer gearteten Gegenkultur gelesen werden könnten? Gibt es sie im weiten Land der Mods? Auf itch.io? In Ludum Dares? Auf gehackten Minecraft-Servern, in unerkannt hypersubversiven F2P-Mobile-Games, die täglich in dreistelliger Zahl erscheinen?
Egal, wo sie sind, die Spiele dieser Gegenkultur: Sichtbar, und damit wirkmächtig, sind sie nicht. Counter-Culture in Spielen? Kaum. Stattdessen, jede Menge: Over-the-Counter-Culture. Schade eigentlich.
Dein
Rainer
BIld: Midjourney, Prompt: Counter culture icon