500 Stunden
Wien, 27.1.2022
Liebe Leserin, lieber Leser,
manche Diskussionen kommen immer wieder auf im Videospieldiskurs, vielleicht, weil es keine guten, also: objektiv richtigen Antworten gibt, sondern nur Meinungen, Konflikte und Trends. Die um Schwierigkeit von Spielen ist ein Klassiker, die um die angemessene Länge von Videospielen ist eine andere. „Wie lang soll ein Spiel sein?“ ist natürlich als Frage ungefähr genauso sinnvoll wie die nach der Länge eines Stücks Schnur, aber hey: Das hat noch keine heiße Diskussion auf Twitter, Facebook oder an irgendeiner Bar eine halbe Stunde vor Schluss vom Eskalieren abgehalten.
Aktuell haben zwei Meldungen die alte Diskussion nach der angemessenen Länge eines Videospiels wieder ins Rollen und Rumpeln gebracht. Zum einen gab es da einen Tweet der Marketer von „Dying Light 2“, der vollmundig 500 Stunden Spielzeit angekündigt hat, ein Versprechen, das kurz darauf kleinlaut relativiert und erklärt werden musste: Das Spiel an sich würde wohl nur etwa 20 Stunden Kampagnendauer bieten, inklusive optionalen Sidequests käme das Ding dann auf 80 Stunden. Die 500 Stunden errechnen sich aus der Zeit, die man als Superfan mit dem andächtigen Abklappern jedes Zentimeters des Spiels beschäftigt sei, und vermutlich sind da auch ein paar Staffeln „The Walking Dead“-Rewatch nebenbei sowie Steuererklärungmachen mit Spiel minimiert im Hintergrund dabei miteingerechnet; wer weiß.
Die zweite Nachricht kam von „Elden Ring“: Das From Software-Spiel habe eine Spieldauer von etwa 30 Stunden, erfuhr man da, das sei die Zeit, die man für das Beenden der Kampagne braucht, plus, natürlich, noch „Dutzende“ weitere Stunden für alles, was es sonst noch im Spiel zu tun gibt. (Obacht: Die Zeit zum gud gitten ist aber wohl noch nicht mitgerechnet.) Das ist ungefähr genau so lang wie bei den Souls-Titeln zuvor, klang aber nach wenig, weil: Open World! Episch! 30 Stunden, das ist ziemlich lang für eine natürliche Geburt (fragt nicht), aber für ein neues Spiel von From?
Ich persönlich bin ja sehr froh über derartige Spieldauern weit unterhalb der Dreistelligkeit. „Ich hab keine Zeit mehr zum Spielen“ ist JEDES. EINZELNE. MAL. die Antwort, wenn ich erwachsene Menschen danach frage, warum sie nicht mehr spielen. Und ich kann’s verstehen: Neben Arbeit, Beziehung, Familie und den Anforderungen eines Soziallebens abseits der Monitore haben „100 Stunden Spielspaß!“ bei vielen einfach keinen Platz mehr. Das ist einleuchtend und traurig, aber Fakt: Mit dem Clan jede Woche wie früher 20+ Stunden „WoW“, „DotA2“ oder „Warzone“, das ganze Wochenende von spät bis früh „Halo Infinite“ oder täglich nach der Schule gepflegt bis Mitternacht „RimWorld“ - das ist irgendwann vorbei. Viele hängen dann die Controller an den Nagel, weil: Wenn derartige Zeitbudgets nicht mehr verfügbar sind, hat das Medium Videospiele ja nach Meinung vieler nichts Ernsthaftes mehr zu bieten. Spielen, das heißt VIEL und LANG spielen. Alles andere ist nur was für filthy casuals.
Ich selbst bin wie andere beruflich Spielende da ein Sonderfall, denn ich spiele quasi in der Arbeitszeit. Das hat einen empfindlichen Nachteil: In vielen, vielen Fällen muss ich Spielwelten Lebewohl sagen, die ich garantiert noch länger erforscht hätte, wenn nicht schon das nächste auf dem Arbeitsstapel aufgetaucht wäre.
Das Hasten von Spiel zu Spiel, von Rezension zu Rezension, von Anspielen zu Anspielen hat mir aber andererseits eine Welt eröffnet, die ich ansonsten vielleicht gar nicht zu würdigen gelernt hätte: die Welt kleiner Spiele. Das alte Vorurteil, dass von einem GUTEN Spiel niemals ZU VIEL da sein kann, habe ich relativiert. Ein gutes Spiel ist es ein gutes Spiel, unabhängig davon, wie lang es ist. das kann zehn Minuten dauern, wie das hervorragende „KIDS“, oder potenziell endlos lang sein, wie „Dwarf Fortress“.
Aber: Es gibt jede Menge Spiele, die viel, viel, VIEL besser wären würden sie nicht ihre Spielzeit aus Konvention und Publikumserwartung ihre Spieldauer künstlich strecken; Spiele, die dem Irrtum aufsitzen, sie müssten vor allem über irgendwelche willkürlichen Zeitmarken kommen, um als episch durchzugehen. Das betrifft „Death Stranding“ ebenso wie „The Last of Us Part 2“, „Ni No Kuni“, so gut wie jedes aktuelle „Assassin’s Creed“, „Persona 5“ und noch einen ganzen Haufen anderer Spiele. Ja, ich weiß, die Fans da draußen wollen das nicht hören. Die Wahrheit tut weh. Aber nicht so sehr wie 30 Stunden obendrauf, in denen man eigentlich schon etwas anderes, Besseres und Kürzeres spielen hätte können.
Andere Medien, wie Filme, TV-Serien und Bücher, sind übrigens ebenso schuldig, dem Missverständnis vom „Mehr ist mehr“ aufzusitzen. Alle aktuellen Marvel-Blockbuster, Villeneueve, Tarantino und auch der olle Scorsese belabern uns weitaus länger, als sie etwas zu sagen haben. Dass bei Filmen, TV-Serien und Büchern allerdings im Durchschnitt weniger Widerspruch als bei Videospielen kommt, wenn man Überlänge kritisiert und die kleine Form lobt, hat wohl verschiedene Gründe. Zum einen hat das Publikum dort seit vielen Jahrzehnten ganz selbstverständlich Erfahrung mit und Spaß an kürzeren Werken; zum anderen muss aber auch kein Film und kaum ein Buch seinen als in Relation zum Taschengeld hoch empfundenen Preis mit möglichst langer Beschäftigungsdauer rechtfertigen.
Wie erwähnt: Ich habe mit großer Freude für mich Spiele entdeckt, die sich mit weniger begnügen. Weniger Budget, weniger Spielzeit, aber auch weniger Füllmaterial und weniger Arroganz gegenüber den Zeitbudgets ihres erwachsenen Publikums. Die empfehle ich übrigens dann regelmäßig all jenen, die mir mit nostalgischer Trauer erzählen, sie würden ja so gern wieder mit Videospielen anfangen, aber eben: Die seien ja alle zu lang. Stimmt nicht; man muss nur ein bisschen das Sichtfeld weiten.
Aber ja: Für „Elden Ring“ schaufle ich mir vermutlich die nötigen Abende frei. Und wenn mir dazwischen danach ist, spiele ich eine Runde „Hoplite“. Am Handy. Der Zeitzähler dafür steht bei mir übrigens auf insgesamt ungefähr 147 Spielstunden seit 2013.
Spielt es doch auch. Es kostet gar nix. Und es ist ziemlich gut.
Dein
Rainer
Bild: Midjourney, Prompt “three old men in hydraulic power armor, Renaissance, aesthetic, golden ratio, eldritch, Lovecraft, dark art, by Albrecht Dürer”